Eine Kritik am Entwurf der geplanten Hochschulresolution
"Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen entschlossen entgegentreten sowie den freien Diskursraum sichern", kommentiert
Heute, den 29. Januar, soll der Bundestag über eine neue Resolution mit dem Namen "Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen entschlossen entgegentreten sowie den freien Diskursraum sichern" abstimmen. Diese Resolution wurde komplett unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutiert und ist 7,5 Stunden vor Abstimmung immer noch nicht öffentlich! Das bedeutet, Expert*innen, Rechtsvertreter*innen, und andere zivilgesellschaftliche Betroffene haben keine Chance, ihre Meinung und Bedenken zur Resolution zu äußern. Die Abstimmung war ursprünglich für morgen, den 30. Januar, 20:30 Uhr geplant, wurde jedoch gestern auf den 29. Januar (heute) vorgezogen.
Die Initiative Fragdenstaat.de veröffentlichte Anfang November einen Entwurf dieser Resolution. Dieser Entwurf ist die beste Anäherug an den Text, die wir haben - also habe ich ihm einer *sehr* gründlichen, und an mancher Stelle polemischen, Analyse unterzogen. Verzeiht mir, Humor rettet Leben.
Was über die Lektüre hinweg auffällt: Die gesamte Resolution positioniert Antisemitismus als besonderes Phänomen, welches komplett getrennt von anderen Diskriminierungsformen gedacht wird (Rassismus, Homophobie, Ableismus, etc). Dabei wird die Diskriminierung einer Gruppe als wichtiger und verachtenswerter erachtet als alle anderen Gruppen. Der Schutz jüdischer Menschen wird gegen den Schutz aller anderen marginalisierten Gruppen ausgespielt. Ein intersektionaler Ansatz, der alle Diskriminierungsformen als ineinander greifend und nur gemeinsame zu bekämpfen versteht, ist nirgends zu finden.
Oh, und das Wort Palästina natürlich auch nicht.
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Los geht’s:
Hier sehen wir den Beginn dessen, was sich den ganzen Text über durchziehen wird: die Verquickung bzw. Gleichsetzung von Antisemitismus - Abneigung von Menschen nur ihres Jüdischseins wegen - und "Israelfeindlichkeit", was als Chiffre für verschiedene Formen der Ablehnung und Kritik eines Nationalstaats, welcher laut hunderten Expert*innen und unzähligen namhaften Menschenrechtsorganisationen, unter ihnen Human Rights Watch, das Lemkin Institute für Genozidprävention, und Amnesty International einen Genozid begeht und seit Jahrzehnten systematisch eine Bevölkerung enteignet, unterdrückt, und vertreibt.
Es wird außerdem gesetzt, dass diese beiden Phänomene an Schulen und Hochschulen vorhanden sind und ein ausreichend schweres Problem darstellen, dass die Bundesregierung dagegen vorgehen muss. Dass beide Phänomene existieren (wobei die Chiffre Israelfeindlichkeit später genauer untersucht wird), ist nicht die Frage, aber die Gewichtung dieser Sache muss im Vergleich zu anderen Formen der Diskriminierung und Gewalt gesehen werden. Gibt es etwa eine Bundestagsresolution gegen Gewalt gegen Frauen? Oder gegen Polizeigewalt?
Hier offenbart sich gleich im ersten Paragraphen der Kern des deutschen Narratives um Palästinasolidarität, Antisemitismus, und Israel:
Nicht-jüdische Menschen werden zum Opfer von Antisemitismus stilisiert. Christliche Ottonormaldeutsche können endlich aus der Rolle des Täters des Holocaust in die Rolle des Opfers schlüpfen.
Währenddessen wird tatsächlicher Antisemitismus verschiedener Formen nicht erwähnt, beispielsweise dass nicht-jüdische Menschen linken und antizionistischen Jüd*innen aufgrund ihrer politischen Haltung ihr Jüdischsein absprechen, und natürlich der klassische rechte Antisemitismus, der nach wie vor in Deutschland der gefährlichste und am weitesten verbreitete ist.
Diese Zahlen beziehen sich auf den Jahresbericht Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2023RIAS , welcher hier zu finden ist.
Der Bericht besagt, dass von 4782 als antisemitisch gemeldeten (es muss kein Antisemitismus festgestellt werden) Vorfällen 2787 nach dem 7. Oktober geschahen. Davon sind 71% sogenannter israelbezogener Antisemitismus, also 1979. Das sind etwa 41%.
Natürlich behaupte ich hier nicht, dass es keinen tatsächlichen Antisemitismus innerhalb der Menschen gibt, die sich für das Ende des Apartheitsstaats Israel aussprechen. Das wäre Quatsch. Die Bewegung ist riesig, und diskriminierende Arschlöcher gibt es überall. Allerdings ist bei dieser Studie kritisch zu hinterfragen, wie viele der angeblichen antisemitischen Vorfälle völlig legitime und nicht diskriminierende Aussagen und Taten waren, die gegen die genozidale Zerstörung allen Lebens im Gazastreifen gerichtete waren.
Ein Beispiel aus dem Bericht: Eine Frau (ob jüdisch oder nicht, ist unklar) hängt eine Israelflagge in ihr Fenster. Daraufhin wird es von Unbekannten mit Eiern beworfen. (Seite 15) Ist das antisemitisch? Oder richtet es sich gegen Israel? Das kann nicht geklärt werden, der Vorfall fließt trotzdem in die Statistik mit ein.
Anderes Beispiel: "Beispielsweise fand Anfang April in Flensburg eine Versammlung anlässlich des sogenannten Tag des Bodens statt. Dort sprach ein Redner von 75 Jahren Apartheid in Israel – einer Israel delegitimierenden und damit antisemitischen Aussage." (Seite 17). Alleinige die Nutzung des Wortes Apartheid wird als antisemitisch definiert. Kurzum, diese Studie muss man mit so viel Vorsicht genießen wie Eiersalat im Hochsommer.
Quellen (weil ich mir höhere Standards gebe als der Bundestag): erster Satz dieses Artikels
Junge Menschen unter 35, die sich politisch links verorten, sind die am wenigsten antisemitisch eingestellte Gruppe im Vergleich: Bericht der Universität Mannheim
Ich stimme sogar zu, dass an Schulen und Universitäten ein Klima der Angst herrscht! Allerdings kommt das meiner Erfahrung und Wahrnehmung nach daher, dass Leute nicht mehr wissen, was sie sagen dürfen, weil die Grenzen zum Antisemitismus unter anderem durch Schriften wie diese komplett verwischt wird.
HRK: Zur aktuellen Antisemitismusdebatte im Bundestag.
PACBI (Palestinian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel, Palästinensische Kampagne für den akademischen und kulturellen Boykott Israels), ruft zum Boykott israelischer Universitäten aufgrund ihrer Rolle in der Aufrechterhaltung des israelischen Unrechtssystems, explizit nicht aufgrund einer jüdischen Identität von Einzelpersonen.
Außerdem ist Boykott ein friedliches Mittel des Widerstandes. Aber auch gewaltfrei ist gewaltsam, wenn es um Widerstand gegen Israel geht.
GEFÄHRLICHSTER TEIL DER GANZEN RESOLUTION. Universitäten sollen mehr Polizei auf ihre Studierenden hetzen? Strafende Polizeilogik soll in Universitäten Alltag werden?
Mal davon abgesehen, dass Antisemitismus und Rassismus in der Polizei strukturell verankert und extrem weit verbreitet ist...
I drafted the definition of antisemitism. Rightwing Jews are weaponizing it Kenneth Stern
New Report Reveals Human Rights Violations Resulting from IHRA Definition of Antisemitism, European Legal Support Center (veröffentlicht vor dem 7. Oktober)
Fazit: Dieser Entwurf ist gefährlich, bedient sich antipalästinensischer, islamophober, und rassistischer Narrative, ignoriert rechte antisemitische Gewalt für den politischen Zweck der Repression gegen die Palästinasolidaritätsbewegung, greift in Wissenschafts- und Meinungsfreiheit ein, und normalisiert und fördert autoritäre Politik wie Polizei in Schulen und Universitäten. Es ist kaum zu erwarten, dass die endgültige Fassung der Resolution besser wird - aber das wissen wir heute Abend, wenn die Abstimmung vorbei ist.
Soviel für heute, und für die deutsche “Demokratie”.